Vor meinem ersten Virtual-Reality-Meeting bin ich so nervös, dass ich mein geliehenes Headset zehn Minuten zu früh aufsetze, mich in den Meeting Room begebe, in dem – Überraschung! – außer mir noch niemand da ist, das Headset wieder abnehme, ein paar Minuten hin und her laufe und dann pünktlich zurückkomme, als wäre es das erste Mal.
Und das, obwohl mir das Team von Arthur Technologies gestern ein Tutorial gegeben und höflich meine dringlichsten Fragen beantwortet hat. Fragen wie: „Wie stehe ich auf?“ oder „Wie werde ich diesen riesigen schwebenden Notizblock wieder los, den ich aus Versehen erstellt habe?“
Während meiner Einführung werden mir auch andere wichtige Fähigkeiten für VR-Gespräche beigebracht, z. B. wie man virtuellen Champagner trinkt, wie man sich teleportiert (was sich für mich eher wie ein großer Sprung anfühlt) und wie ich meine Arme halten muss, damit mein Avatar nicht wie ein Velociraptor aussieht.
Als ich den Besprechungsraum von Arthur betrete, fühle ich mich wie in einer anderen Welt: Ich versuche, mich an meine Körperform zu erinnern, während ich mich an das Headset und die Controller in meinen Händen gewöhne, ganz zu schweigen von dem Aufnahmeteam im Hintergrund.
Lauren Silverman
Warum ich mir all das antue? Weil ich mit Christoph Fleischmann verabredet bin, dem Gründer und CEO von Arthur. Wenigstens ist unsere Begrüßung nicht unangenehm – der VR-Avatar von Chris ist leicht zu erkennen, er wurde anhand eines Fotos erstellt. Genauso wie meiner, der auf einem Geschäftsfoto von LinkedIn beruht. Und ja, auch mein Outfit wurde bewusst gewählt. Das Arthur-Team hat mich mit einer eleganten Kombination aus Blazer und Jeans ausgestattet, die durch ein Paar weiße Sneaker etwas lässiger wirkt. Können sie mich nicht für all meine Meetings einkleiden?
Chris wuchs fernab der großen Branchen-Hubs in Wien auf und fühlte sich von der globalen Tech-Community abgeschnitten. Als er vor zehn Jahren zum ersten Mal mit der Augmented-Reality-Technologie in Berührung kam, hielten die meisten Menschen sie noch für einen Marketing-Gag. Erinnerst du dich noch daran, wie wir z. B. dazu aufgefordert wurden, einen QR-Code zu scannen, damit ein virtuelles Logo erscheint? Aber Chris erkannte in ihr sehr viel größeres Potenzial. Diese Technologie könnte, so dachte er, die Lösung sein, um Ungleichheiten auszugleichen und auf andere, sinnvollere Weise mit einer Community in Kontakt zu treten, die sich blitzschnell weiterentwickelte.
Das Besondere an Arthur – einem Unternehmen, dessen Software anderen Unternehmen hilft, sich in der virtuellen Realität zu treffen, dort zusammenzuarbeiten und ihre Arbeit zu verwalten – lässt sich am ehesten mit einem Gefängnisausbruch vergleichen. Einer ihrer ersten Kunden, die IT-Abteilung eines großen Automobilherstellers, arbeitete schon seit mehreren Monaten mit ihnen zusammen. Damals fand die meiste Unternehmensplanung persönlich statt – man traf sich, um Post-its an eine Wand zu kleben. Stattdessen berief das Arthur-Team ein VR-Meeting ein.
„Sie hatten ein paar Whiteboards mit PDFs“, erinnert sich Chris. „Es war ein langes Meeting, anderthalb Stunden, und wir haben viele Notizen gemacht. Irgendwann beschlossen wir, eine Pause einzulegen. Wir wollten gerade unsere Headsets abnehmen, da sagten sie: ‚Moment, wartet mal. Wir möchten euch unsere Terrasse zeigen.‘“
Christoph Fleischmann,
CEO,
Arthur Technologies
Wie sich herausstellte, hatte der IT-Kunde von Arthur die Software gehackt und den Meeting Room um einen geselligeren Bereich erweitert – ähnlich dem, in dem Chris und ich uns für unser Gespräch getroffen haben (er gibt sogar stolz zu, dass Arthur die Idee übernommen hat). Alle gingen „nach draußen“, verbrachten dort ihre Pause und unterhielten sich über ihr Leben, ohne dabei die VR zu verlassen.
„Das war ein ziemlich magischer Moment“, erinnert sich Chris. „Da wurde uns klar, das hier ist mehr als nur ein Meeting-Raum für sie, es ist ein Ort, an dem sie arbeiten und miteinander in Kontakt kommen können.“
Mit unserer virtuellen Aussicht auf die sanften Farben des Sonnenuntergangs geht, wie ich feststellte, auch eine gewisse Freiheit einher – eine Einladung zu einer zwangloseren Verbindung. Das liegt laut Chris daran, dass mein Gehirn ausgetrickst und mein räumliches Bewusstsein unmerklich verändert wird. Wenn ich mich zum Beispiel über dieses VR-Geländer lehnen würde, würde ich wahrscheinlich ein Kribbeln in den Füßen verspüren.
Präsenz ist das Fundament, auf dem Arthur aufgebaut ist. Alle Aspekte sind darauf ausgerichtet, dass die Menschen sich wohlfühlen. Sie sollen das Gefühl haben, sie können sich frei entfalten. Doch um Unternehmen dazu zu bewegen, die Lösung in großem Umfang zu übernehmen, reichte die emotionale Bindung nicht aus.
Chris spricht gern über das Venn-Diagramm, das zwischen Präsenz und Produktivität besteht. Viele Unternehmen haben mit der Frage zu kämpfen, wie sie die beiden Aspekte miteinander vereinbaren können, ohne das eine oder das andere aufzugeben. Bei Arthur „führt eine richtig aufgesetzte Produktivität dazu, dass man sich präsenter und engagierter fühlt.“ Er beschreibt ein Meeting mit zehn Personen. Bei einem Videoanruf dieser Größenordnung ist es für alle Teilnehmenden schwierig, sich konsequent und aktiv zu beteiligen. „Hier sind alle dabei, machen sich Notizen, verschieben Dinge auf dem Whiteboard und führen Nebengespräche.“
Ein Großteil der Kraft dieses Mediums liegt im Ton. Wenn Chris sich während unseres Gesprächs nach links bewegt, ändert sich auch die Klangrichtung seiner Stimme. Wenn er sich entfernt, wird es schwieriger, ihn zu hören. Manche Besprechungsräume bei Arthur sind schalldicht, sodass Personen, die vor der Tür stehen, nicht hören können, was drinnen besprochen wird, und auch nicht mit den Personen im Room sprechen können. Das habe ich bei meiner Einführung auf die harte Tour gelernt, als ich durch einen großen „Sprung“ plötzlich aus dem Geschehen gerissen wurde.
Meine größte Sorge bei diesen Sprüngen – die wichtig und notwendig sind, um sich innerhalb von Arthur fortzubewegen – ist die, dass ich versehentlich auf jemand anderem lande. Natürlich passiert das auch prompt. Dank unserer schwerelosen Avatare kommt bei der Kollision jedoch niemand zu Schaden, und wir können darüber lachen. Chris ist bestimmt daran gewöhnt. Das hoffe ich zumindest.
„Rund um VR ließe sich ein ganzer Persönlichkeitstest entwickeln“, erklärt er mir. Auch wenn wir neue Technologien oder neue Wege der Kommunikation nutzen, bleiben bestimmte Wahrheiten über menschliche Erfahrungen bestehen: Menschen haben unterschiedliche Vorlieben und unterschiedliche Bedürfnisse. Manche bevorzugen kleine, aufwändig gestaltete Räume. Andere fühlen sich in weitläufigen Bereichen am wohlsten, die zum gemeinsamen Verweilen einladen.
Unternehmen werden Lösungen wie Arthur zu schätzen lernen, mit denen sie ihr Team mit einer Vielzahl unterschiedlicher Umgebungen unterstützen können – von Besprechungsräumen zum Brainstorming über Amphitheater für möglichst viele Personen bis hin zu Dachterrassen, die sich perfekt zum Anstoßen eignen. „Wir haben Mixed Reality hinzugefügt“, sagt Chris, „damit man seine Kolleg*innen in das eigene Wohnzimmer einladen kann.“ Sofort fange ich an, mir Gedanken über meine Sofakissenauswahl zu machen.
Was ist das ultimative Ziel dieser Innovation? „Wenn wir Erfolg haben, spielt es keine Rolle mehr, wo man geboren wurde, wo man leben oder seine Kinder großziehen möchte“, so Chris. Dabei erinnere ich mich an seine persönliche Verbindung zu diesem Medium. „Es spielt keine Rolle, ob man einen Pass hat. „Solange man Internet und Zugang zu einem Gerät hat, kann man genauso produktiv wie alle anderen mit jeder Person auf der Welt arbeiten.“
Christoph Fleischmann,
CEO,
Arthur Technologies
Als Chris mich in ein virtuelles Arbeitszimmer führt und mir zeigt, wie die Software Daten importieren und andere Arbeitsplatzlösungen wie Whiteboards, Post-its oder Kanban-Flows imitiert, kann ich mir gut vorstellen, mit meinem Team ein Brainstorming oder eine vierteljährliche Planungssitzung in diesem Room abzuhalten. Trotzdem bin ich froh, dass er mich nicht bittet, tatsächlich eine Notiz zu verfassen. Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich mich problemlos in Arthur bewegen kann. Die Funktionen sind zwar leicht zugänglich und nutzungsfreundlich, doch ich weiß, dass ich zumindest heute vor der Kamera nicht cool dabei aussehen würde, sie zu nutzen.
Als ich das zugebe, beruhigt mich Chris: „Es sollte sich gar nicht normal anfühlen, denn das ist es nicht. Wenn es nicht auch etwas seltsam wäre, wäre die Veränderung nicht groß genug. Aber die Veränderung ist riesig.“
Vielleicht gilt das für alle frühen Anwender*innen von Lösungen wie Arthur und von Plattformen wie VR im Allgemeinen – diese Technologie ist für diejenigen, die bereit sind, auf der Suche nach der nächsten Herausforderung etwas leicht Verrücktes in Kauf zu nehmen.
„Die Menschen sollten erwarten, dass sie ein gewisses Maß an Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen müssen, um dazuzulernen und sich mit dieser Erfahrung vertraut zu machen“, sagt Chris abschließend.
Wie zum Beweis fängt meine Nase mitten im Satz an, fürchterlich zu jucken. Das lässt sich nicht vermeiden. Ich muss herausfinden, wie ich meinen Controller absenken und mein Headset hochschieben kann, um mich zu kratzen. Ich habe keine Ahnung, was das mit meinem Avatar macht und was alle anderen sehen werden. Ich habe das Bedürfnis, sie vorzuwarnen, und wir lachen darüber. Das ist ein weiterer kleiner, aber wirkungsvoller Moment, der die Kraft und Realität unserer gemeinsamen Präsenz unterstreicht.
Trotzdem bin ich froh, dass ich wenigstens nicht niesen muss.