1999 behandelte ein US-Forschungsteam am Georgia Institute of Technology erstmals erfolgreich Veteranen des Vietnam-Kriegs mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) in der virtuellen Realität.
Bei dieser als „Virtual Vietnam“ bekannt gewordenen Studie zur psychischen Gesundheit experimentierten die Teilnehmenden mit zwei virtuellen Umgebungen: dem Inneren eines Huey-Hubschraubers sowie einer Lichtung im Dschungel. Die Studie demonstrierte das immersive Potenzial der virtuellen Realität – die Teilnehmenden verzeichneten einen Rückgang ihrer PTBS-Symptome um 34 %.
Fast 25 Jahre später sind nun verbesserte Technologien und erschwinglichere Headsets verfügbar, mir denen wir neue Wege erschließen können, um Hilfe bei psychischen Erkrankungen zu leisten und Unterstützung für die mentale Gesundheit zu bieten – insbesondere bei Stress und Angstzuständen unter Arbeitnehmer*innen, die enorme Auswirkungen für Unternehmen und Mitarbeitende haben.
Laut der britischen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin HSE leiden im Vereinigten Königreich 914.000 Arbeitnehmer*innen unter Stress, Depressionen oder Unruhe, die auf ihre Arbeit zurückzuführen ist, wodurch jedes Jahr ca. 17 Millionen Arbeitstage verloren gehen. Einem Bericht der Mental Health Foundation und der London School of Economics zufolge belaufen sich die Kosten für die sich zunehmend verschärfende Krise der psychischen Gesundheit im Vereinigten Königreich auf 118 Milliarden Pfund pro Jahr.
„Unser Bericht verdeutlicht die enormen Kosten psychischer Erkrankungen für die Wirtschaft“, schrieb Mark Rowland, Chief Executive der Mental Health Foundation. „Er zeigt aber auch Chancen auf, wie wir unseren Ansatz zur Hilfe für die psychische Gesundheit radikal verbessern können – indem wir Prävention priorisieren, können wir das Wohlbefinden aller steigern und die Kosten für die Wirtschaft senken.“
Virtual Reality zählt zu den immersiven Technologien, die heute von Unternehmen dazu eingesetzt werden, Lösungen für die zunehmende Belastung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zu entwickeln. Die meisten der zurzeit für Unternehmen verfügbaren Support-Apps basieren auf der VR-Exposition (VRE) – einer Methode, die erstmals im Rahmen der „Virtual Vietnam“-Studie eingesetzt wurde und eine Alternative zur traditionellen Konfrontationstherapie bietet, in der Betroffene mit ihrer Vorstellung arbeiten.
In der Vergangenheit gehörte die Konfrontationstherapie zu den erfolgreichsten Behandlungsformen für Personen mit Phobien und anderen Angststörungen, da sie die Betroffenen zwingt, sich ihren Ängsten in einer kontrollierten und sicheren Umgebung zu stellen. Jedoch ist eine Voraussetzung für ihr Gelingen, dass sich diese Personen die Szenarien vorstellen können, die für sie Ängste auslösen. VRE ermöglicht den Betroffenen, tiefer und effektiver in die Therapieszenarien einzutauchen.
„Kognitive Verhaltenstherapeut*innen setzten bisher auf die traditionelle Konfrontationstherapie, bei der sich ihre Patient*innen bestimmte Szenarien vorstellen“, erklärt Daniel Andreev, Head of Product bei PsyTechVR. Das Hauptproblem mit diesem Ansatz ist, dass es traumatisierten Personen oft sehr schwer fällt, die Augen zu schließen und sich ein Objekt, eine Situation oder eine Aktivität vorzustellen, die ihnen Angst macht.“
PsyTechVR ist eines der Unternehmen, die die Vorteile von VRE gezielt einsetzen, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu verbessern, indem sie Virtual und Augmented Reality-Lösungen für Therapie, Forschung und Schulungen entwickeln.
„Wir arbeiten mit der Burgan Bank im Nahen Osten zusammen. Der Finanzdienstleistungssektor spielt für uns eine wichtige Rolle, da es sich dabei um eine äußerst stressige Umgebung handelt, in der Menschen regelmäßig mehr als 10 Stunden am Tag arbeiten“, sagt Andreev. „Darüber hinaus arbeiten wir oft mit Beratungsunternehmen wie PwC zusammen, mit dessen Niederlassungen in Dubai und Deutschland gegenwärtig Partnerschaften bestehen.“
Als PsyTechVR 2020 auf den Markt kam, gab es ein paar konkurrierende Unternehmen, die im gleichen Bereich tätig waren. Die Headsets, die sie einsetzten, boten jedoch nur drei Freiheitsgrade (auch bekannt als 3DoF). Das bedeutete, dass sich Nutzer*innen zwar in ihrer virtuellen Umgebung umsehen, aber nicht darin bewegen konnten. Dadurch sind die Nutzer*innen, so Andreev, lediglich „Zuschauer*innen“ und nicht aktive Teilnehmende.
„Als Meta das erste Headset mit sechs Freiheitsgraden veröffentlichte, war das ein deutlicher Kontrast. Wir wussten gleich, dass dies ein Wendepunkt sein würde“, sagt er. „PsyTechVR hat seit deren Einführung mit der Meta Quest gearbeitet. Uns war klar, dass ihr Potenzial für unsere Zwecke enorm ist.“
PsyTechVR operiert als Software-as-a-Service (SaaS) und Kund*innen können das Angebot des Unternehmens an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen. Dazu gehört u. a., welche Dienste den Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt werden, auf welche Daten man über das Verwaltungs-Dashboard zugreifen kann und sogar die Option, biometrisches Feedback hinzuzufügen.
„Mit unserem System können die Nutzer*innen wichtige Dinge wie ihren Puls, ihre Herzfrequenzvariabilität und ihr Stress- oder Konzentrationsniveau in Echtzeit tracken“, erklärt Andreev. „Wir implementieren Biosensoren in die Quest-Headsets, mit denen das Personalteam oder der*die Beauftragte für Wohlbefinden authentische Daten über den Effekt der Virtual Reality-Behandlung auf die Mitarbeitenden erhält.“
PsyTechVR hat zudem ein Beratungsgremium aus Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, promovierten Ärzt*innen und Mediziner*innen eingerichtet. Dies eröffnet den Personalteams den Zugang zu wichtigem Fachwissen, das anderweitig kostspielig wäre.
„Unser Hauptvorteil ist die Zeit- und Kostenersparnis“, betont Andreev. „Zwei Headsets und zwei Lizenzen kosten natürlich viel weniger als zwei Psycholog*innen. Alle Mitglieder unseres Personalteams bemühen sich, auf die Initiativen zur psychischen Gesundheit aufmerksam zu machen. Viele Unternehmen, die sich um mehr Wohlbefinden unter den Mitarbeitenden bemühen, ermutigen diese, zur Entspannung einen Spaziergang einzulegen oder eine Runde Jenga zu spielen. Doch in der gleichen Zeit können die Mitarbeitenden ihr Headset nehmen und eine virtuelle Achtsamkeitsmeditation oder ein Training für Angst und Nervosität absolvieren. In der Virtual Reality können sie im gleichen Zeitraum viel mehr erreichen.“
Die VR-Expositionstherapie wie auch die traditionelle Konfrontationstherapie kann helfen, spezifische Probleme im Zusammenhang mit Ängsten abzubauen. Und Virtual Reality-Apps für Achtsamkeit und Meditation können Personalteams dabei unterstützen, allgemeinere arbeitsbedingte Belastungen zu reduzieren.
Zillah Watson ist Mitgründerin von Phase Space, einer neuen App, die mithilfe von Meta Quest-Headsets immersive Meditationen für Unternehmen und Schulungseinrichtungen bereitstellt. Bevor sie Phase Space ins Leben rief, war Watson Leiterin des Virtual Reality Hubs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt BBC. Hier wurde ihr klar, welches Potenzial die virtuelle Realität für die Hilfe für die psychische Gesundheit hat.
„Virtual Reality begeistert mich, denn während meiner Zeit bei der BBC konnte ich ihre positiven Auswirkungen mit eigenen Augen sehen. Beispielsweise haben wir mithilfe der VR Menschen auf eine Reise in die Demokratische Republik Kongo mitgenommen, und später hatten sie eine lebhafte Erinnerung an Orte wie den Bahnhof von Kinshasa – als wären sie dort gewesen“, sagt sie.
„Mit Phase Space sind wir eine Partnerschaft zwischen talentierten Kreativschaffenden und einer klinischen Hypnotherapeutin eingegangen,“ sagt Watson weiter. „Wir machen uns zunutze, was Virtual Reality in puncto Präsenz leisten kann. Ob gestresste Arbeitnehmer*innen oder Studierende mit Prüfungsangst – die VR entführt uns in andere Welten.“
Um die Phase Space-App zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sie strikten Test- und Kontrollverfahren genügt, arbeitet das Unternehmen mit Wissenschaftler*innen der Goldsmiths University of London zusammen, darunter Prof. Sylvia Pan und Prof. Marco Gillies. Außerdem hat sich das Team mit einer Hypnotherapeutin zusammengetan, die Nutzer*innen durch die Erlebnisse führt.
„Unsere App ist sprachgeführt“, erklärt Watson. „Und wir arbeiten mit der erfahrenen Therapeutin Ursula James, die darüber hinaus Expertin auf dem Gebiet der klinischen Hypnose ist. Sie arbeitet schon seit vielen Jahren im Bereich Stressbewältigung am Arbeitsplatz und in Bildungseinrichtungen.“
Phase Space wird in Form eines fünftägigen VR-Kurses angeboten, der täglich sieben Minuten in Anspruch nimmt. So hilft die App, Stress und Ängste in viel kürzerer Zeit zu mindern als traditionelle Therapieformen. „Wie ein Studierender in einem unserer Testdurchläufe sagte: ‚Es dauert sieben Minuten, mir draußen einen Kaffee zu holen’. Genau das ist unser großer Vorteil“, erklärt Watson. „Würden wir das Erlebnis als Workshop im 40-Minuten-Format anbieten, würden ihn viele wahrscheinlich nicht wahrnehmen.“
Die Phase Space-App versetzt die Nutzer*innen in eine Umgebung, die Watson „wie ein Spa in einer Art Kathedrale“ beschreibt. Dabei handelt es sich um einen Raum unter einer großen Kuppel, der sich nach und nach in ein Kaleidoskop aus Licht verwandelt. Dieses Erlebnis kann nur noch besser werden, wenn in Zukunft neue Hardware verfügbar wird.
„Momentan nutzen wir Meta Quest -Headsets“, sagt Watson. „Aber wir sind schon sehr auf die Quest 3 gespannt, die Passthrough in vollem Farbumfang unterstützt und uns so die Möglichkeit gibt, unsere Nutzer*innen auf noch schönere Art und Weise in ganz neue Umgebungen zu versetzen.“
Phase Space wird aktuell im Vereinigten Königreich getestet, wobei Machbarkeitsversuche mit Studierenden der Medizin und Mitarbeitenden ausgewählter Unternehmen durchgeführt werden. Finanziert werden diese Tests von der britischen Regierung in Form eines Zuschusses von UK Research and Innovation im Rahmen des mit 20 Millionen Pfund dotierten Mindset-Programms.
Der National Health Service (NHS) im Vereinigten Königreich leistete einen wichtigen Beitrag bei der Prüfung von Anwendungsfällen für immersive Technologien im Bereich psychische Gesundheit. So konnte die britische Regierung neue Chancen identifizieren und Start-ups durch Programme wie Mindset unterstützen.
Neesa Mangalaparathy ist eine der führenden Personen, die darüber entscheiden, wie solche Technologien beim NHS eingesetzt werden sollen. Vor ihrer Tätigkeit als Senior Solutions Manager bei UCLPartners – einer Partnerschaft verschiedener NHS-Organisationen, die Innovationen im Gesundheitswesen fördert – war Mangalaparathy Programm-Managerin eines NHS-Teams, das sich damit beschäftigte, wie Fachkräfte im Gesundheitswesen neue Technologien einsetzen könnten.
„Damals fiel uns eine besonders immersive Technologie auf: die Extended Reality (XR)“, so Mangalaparathy. „Sie entstand infolge der Corona-Pandemie. Während dieser Zeit stellten wir unter anderem fest, dass viele Anbieter Gesundheitsdienstleistungen, die normalerweise in einem persönlichen Gespräch erbracht werden, mithilfe von VR-Headsets und -Inhalten bereitstellten.
Denn während der Pandemie wurden die Wartelisten immer länger und der Rückstau war kaum zu bewältigen. XR bot hier eine Alternativmethode, um Gesundheitsdienstleistungen bereitzustellen – mit gleichen Ergebnisse für die Patient*innen. „Das stieß auf nationaler und politischer Ebene auf Interesse. Etwas, das bisher nur als Zukunftstechnologie betrachtet wurde, war plötzlich Realität. Die Anbieter befassten sich schon mit dieser Technologie.“ Wir wollten unbedingt herausfinden, woran sie arbeiteten“, erklärt Mangalaparathy.
Mangalaparathy und ihr Team sicherten sich einen Zuschuss in Höhe von 2 Millionen Pfund aus dem Unified Tech Fund, mit dem sie 14 Pilotstudien durchführten und analysierten, inwiefern Technologien wie Virtual Reality auf sichere und effektive Weise eingesetzt werden können. Am Ende der Studien veröffentlichten sie den Bericht „The Growing Value of XR in Healthcare in the United Kingdom“ (Die steigende Relevanz von XR für das Gesundheitswesen des Vereinigten Königreichs).
„Uns wurde klar, dass die Zahl der Anbieter, die XR verwendeten und erforschten, wie man sie für die Gesundheitsversorgung einsetzen könnte, vor der Pandemie verschwindend gering war“, sagt sie. „Nach der Pandemie waren es fast 100 Anbieter, Tendenz steigend.
Die steigende Anzahl von XR-Apps, die Hilfe für die psychische Gesundheit leisten möchten, erhöht auch die Dringlichkeit ihrer Regulierung. Zwar haben manche Entwickler eigene Beratungsgremien eingerichtet, doch das ist längst nicht für alle der Fall. Daher schalten sich nun offizielle Regulierungsbehörden ein.
2021 genehmigte die Food and Drug Administration (FDA) in den USA das Produkt RelieVRx – die erste von der FDA zugelassene Schmerzbehandlung, die zu Hause mithilfe eines Virtual Reality-Headsets durchgeführt werden kann, weshalb sie von US-Krankenversicherungen übernommen werden kann. Im Vereinigten Königreich hat das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) das Early Value Assessment for medtech veröffentlicht – ein erster Schritt bei der Erstellung von Richtlinien für Entwickler, die XR im Kontext von psychischer Gesundheit einsetzen wollen.
„Wie können wir angesichts so vieler Apps für psychisches Wohlbefinden feststellen, ob ein Produkt im klinischen Sinne sicher und wirksam ist? Glücklicherweise hat das NICE ein Framework entwickelt, das die Bewertung digitaler Therapeutika oder digitaler Interventionen beschleunigt“, sagt Mangalaparathy.
Bei der Bereitstellung von Hilfe für die psychische Gesundheit durch XR-Technologien müssen Unternehmen vieles bedenken. Für Mangalaparathy ist es jedoch am wichtigsten, dass dabei alle an Bord sind – nicht nur jene, die gern innovative Technologien ausprobieren. „Investitionen in die XR und deren Einsatz im Kontext der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens der Mitarbeitenden am Arbeitsplatz erfordern viel Engagement des Unternehmens. Um wirklich etwas zu erreichen, braucht es Bereitschaft und Begeisterung“, räumt sie ein.
„Es reicht nicht, nur Technologie-Fans zusammenzutrommeln. Gerade die Personen, die diese am schärfsten kritisieren, sollten angesprochen werden. Das ist wirklich wichtig. Nur wenn alle im Boot sind, kann ein Unternehmen das wahre Potenzial der XR erfolgreich erschließen und wertschätzen“, schließt sie ab.
20 Jahre nach der Veröffentlichung der bahnbrechenden „Virtual Vietnam“-Studie ist die Virtual Reality-Technologie so weit gereift, dass Start-ups wie PsyTech und Phase Space Unternehmen helfen können, das psychische Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden zu steigern.
Unternehmen sehen sich mit den schwindelerregenden Kosten von arbeitsbedingtem Stress konfrontiert. Außerdem bietet die virtuelle Realität neue immersive Lösungen, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz mit nie dagewesenen Methoden zu fördern und eine neue transformative Ära zu beschreiten.
Mithilfe von Virtual Reality können Unternehmen ein Umfeld schaffen, das die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden stärker fördert. Dies trägt nicht nur zu ihrem Wohlbefinden bei, sondern setzt u. U. auch neue Energien in diesen Teams frei. Erfahre mehr darüber, wie VR-App-Integrationen deiner Organisation helfen können, ihr Potenzial voll zu entfalten.